Es ist noch früh und sehr kalt. Ich sitze mit Sweatshirtjacke bei ungefähr 11°C in der Schneiderei und freue mich über meinen Tee. Auf die Socken habe ich heute morgen doch wieder verzichtet, weil ich weiß, dass gegen Mittag die Temperatur wieder auf fast 30°C hochklettert. Es klopft zaghaft, eine der Schneiderinnen steht vor der Tür. Ich erschrecke etwas, sie sieht verfroren und ausgelaugt aus. Sie hat sich eine Decke umgelegt und erklärt mit leiser Stimme, sie hätte kein Guthaben mehr auf dem Handy gehabt und sei nur gekommen, um Bescheid zu sagen, dass sie krank sei. Ich bin fassungslos über ihr Pflichtbewusstsein in diesem Zustand gut 4 km zu laufen, nur, um Beschied zu sagen, dass sie nicht arbeiten kann. Nicht erreichbar zu sein, weil man gerade kein Guthaben auf dem Handy hat oder auch zeitweise gar kein Handy hat, ist hier Alltagsgeschehen. Manchmal ist eben kein Kwacha mehr übrig, um Guthaben aufzuladen. Dem materiellen Besitz wird nicht so viel Wert beigelegt, wie wir es kennen. Dafür ist der Besitz von Dingen zu unstetig und dauerhaft im Wandel. Handys gehen kaputt, verloren…
Pflichtbewusstsein und Höflichkeit sind in Sambia dagegen wichtige Werte. Schon die kleinsten Kinder wissen sich in vielen Situationen sehr höflich zu verhalten. So knicksen zum Beispiel viele Kinder, wenn man ihnen mittags ihr Essen in die Hand gibt. Wenn man zu einer sitzenden Person tritt, mit der man reden möchte, kniet man sich neben sie, um Respekt zu zeigen. Das gilt für Schüler zu Lehrer wie für Mitarbeiter zu Mitarbeiter.
Anders als wir Deutsche lernen, dass man jemandem in die Augen guckt, wenn man sich unterhält, gilt diese Geste hier als respektlos. Vor allem, wenn man mit älteren Sambiern spricht, sollte man den direkten Blickkontakt vermeiden. Stattdessen wandert man beim Sprechen mit den Augen immer vom Boden auf maximal Kinnhöhe. Es gilt ebenfalls als äußerst unhöflich durch eine Gruppe Menschen hindurchzugehen, die sich gerade unterhalten. Gibt es keine Möglichkeit um die Gruppe herumzugehen, sollte man am Besten warten.
Später beim Mittagessen setze ich mich zu den Schneiderinnen. Sie unterhalten sich gerne auf Bemba und ich finde es jedes Mal wieder schade, dass ich da nicht mitreden kann. Am Anfang war ich schon motiviert die Sprache zu lernen. Es war sogar eher eine Selbstverständlichkeit, dass ich mir Mühe gebe, ihre Sprache zur einfachen Verständigung zu lernen. Leider musste ich doch irgendwann akzeptieren, dass es einige Hürden gibt wirklich Bemba zu lernen, sodass ich jetzt immer noch nicht über einen kleinen Wissensschatz an Sätzen hinauskomme, den ich mir schon mühsam zusammengeklaubt habe. Trotzdem kann man es einen Erfolg nennen, ich weiß immerhin mehr als „Google Übersetzer“. Diese sprachlichen Strukturen sind so weit von einer Sprache mit lateinischem Ursprung entfernt, es hilft nur, immer wieder die Einheimischen zu fragen und Wort für Wort mit ihnen aufzuschreiben. Dafür lernt hier jedes Kind seit der britischen Kolonialzeit, die bis 1964 angedauert hat, spätestens mit Einschulung in die 1. Klasse Englisch. Durch diese jahrelange Prägung der Briten gilt Englisch auch heute noch als Landessprache. Am Anfang hab ich deren gewöhnungsbedürftigen Akzent kaum verstanden, teilweise konnte ich nicht einmal sagen, ob es Bemba oder Englisch war. Aber mittlerweile habe ich manches selber adaptiert…
Letztens habe ich auch erfahren, dass die Sambier unseren Akzent sehr schwierig zu verstehen finden. Dementsprechend versuchen wir uns gegenseitig zu arrangieren. Ein paar Mal bin ich recht fordernd dazu aufgefordert worden, doch gefälligst ihre Sprache zu lernen, sie würden ja auch unsere Sprache sprechen können. Erst bei zweiten Mal habe ich den tieferen Hintergrund der Forderung verstanden. Viele Sambier glauben, dass alle Weißen Englisch als Muttersprache sprechen und wissen gar nicht, dass sie oft flüssiger Englisch sprechen als ich es tue. Solche Situationen erinnern mich immer wieder daran, dass manche Erlebnisse eine nachhaltige Erklärung haben, auch wenn sie an der Oberfläche manchmal sehr unangenehm sind. Eine spezielle, sprachliche Angewohnheit der Sambier jedoch führt nicht nur bei mir manchmal zu sehr großer Verwirrung. Sie vertauschen gerne die Laute von „r“ und „l“. So wird aus „Let‘s Pray“ plötzlich „Let‘s Play“. Sie sind sich selber über diesen sprachlichen Makel bewusst und verwirren sich damit gerne gegenseitig, sodass es immer wieder Missverständnisse aber auch sehr lustige Momente deswegen gibt.
Nach dem Essen nutze ich die Gelegenheit und sammle die 6. Klasse für ein Klassenbild ein, dass ich ihnen am Ende meiner Zeit zum Abschied schenken möchte. Aufgeregt wuseln sie alle durcheinander, sodass es einige Zeit dauert, bis wir Formation angenommen haben. Stellt euch mal vor, ihr wüsstet nicht, wie ihr als Kind ausgesehen habt… Schwierig, richtig? Ich finde die Vorstellung sehr komisch und bin dankbar, dass es Kinderfotos von mir gibt. Viele sambischen Kinder werden später keine Fotos von sich haben und wissen natürlich auch nicht, wie sie als Baby ausgesehen haben, weil Fotos hier ein sehr kostbares Gut ist. Selbst wenn man ein Handy hat, sind die Fotos sehr vergänglich, da sie keine Möglichkeit der Datensicherung haben. Deswegen muss man sich darauf einstellen, dass es definitiv nicht bei einem Foto bleibt und sie das Fotos machen immer zu einem Event werden lassen. Ich werde immer wieder dazu aufgefordert neue Positionen einzunehmen und habe irgendwann das Gefühl, dass wir gar nicht mehr aufhören. Zudem bin ich einfach nicht so die große Poserin, da kann ich definitiv noch einiges von ihnen lernen! Zum Glück steht ihre Lehrerin genauso unbeholfen neben ihnen wie ich hinter ihnen. Als wir dann doch fertig sind, wollen alle die Fotos sehen. Ein Mädchen guckt mich mit großen Augen an und fragt mich, ob ich ihr zeigen kann, wer sie ist…
Als ich den Weg überquere, um vom Schulgelände zur Schneiderei zu gelangen, kommt mir eine Mami mit kleinem Kind entgegen. Ich grüße sie auf Bemba, sie freut sich sichtlich sehr doll und grüßt mich zurück. „Wow, your are so fat.“, sind ihre nächsten Worte.
Sie selber ist gerstenschlank und wie ich finde, eine Schönheit für sich. Genau das sage ich ihr auch, obwohl ich weiß, dass sie es wahrscheinlich nicht so sieht. Das sambische Schönheitsideal ist gegenteilig zu dem, wie ich von der deutschen Gesellschaft geprägt wurde. Noch eine Sache, wofür ich hier dankbar bin. Immer mal wieder daran erinnert zu werden, dass sehr viele Dinge menschengemacht bzw. „gesellschaftgemacht“ sind, und so knallhart von anderem Denken konfrontiert zu werden.
Am Nachmittag radle ich in die Stadt, um einen kleinen Einkauf zu machen. Ich brauche ewig und ärgere mich, dass ich meine Besorgungstour zeitlich nicht besser geplant habe.
Die Straßen sind voll, an den Supermarktkassen ist die Hölle los und an Geld holen ist gar nicht zu denken. Da bin ich selber schuld dran, wenn ich das Ende des Monats mal wieder nicht auf dem Schirm habe. Man merkt diese Schwankungen hier sehr extrem, ob die Menschen gerade Geld haben oder das Auto erstmal nicht mehr getankt werden kann. Einigen Familien fällt es schwer mit ihrem Geld zu haushalten, die anderen haben schlichtweg nicht genug. Hinzukommt, dass die Sambier leider wenig Vertrauen in ihre Banken haben und ihr Gehalt direkt wieder vom Konto abheben. Deswegen bilden sich zum Monatsende meterlange Schlangen vor den Automaten. Dumm, wenn man dann selber auf den letzten Kwacha Bargeld läuft, da spreche ich aus Erfahrung.
Ich schiebe mich durch den vollen Supermarkt, mal wieder etwas planlos. Einkaufsliste machen, lohnt sich nicht so sehr, denn es gibt sowieso nur das, was es gibt. Das Sortiment ist im dauerhaften Wandel, sodass man immer wieder mal eine neue Entdeckung macht und manchmal aber auch vergeblich auf eine weitere Lieferung von etwas hofft. Einige Produkte scheinen aber auch Standard zu sein, denn zum Beispiel die Hefe füllt gerne eine ganze Regalreihe…
Spannend finde ich auch die deutlich unterschiedlichen Höhen der Füllmenge in Flaschen oder das „oder“ auf Listen mit Inhaltsstoffen. Das ist eben drin, was es gerade gab und es schmeckt immer etwas anders. Ob sowas bei uns überhaupt erlaubt wäre?
Von einem langen Tag nach Hause kommen, aufs Sofa fläzen und ein bisschen Instagram scrollen… nicht sehr oft, aber manchmal ist mir wirklich genau danach. Einige von euch können das sicherlich nachvollziehen. Heute wäre so ein Tag gewesen. Aber, unser Wlan ist gerade alle und dass mein Handy mir eine LTE Verbindung anzeigt, heißt noch lange nicht, dass man auch eine LTE Verbindung hat. Es heißt nicht einmal, dass man überhaupt irgendeine Verbindung hat. Aber gut für euch, denn stattdessen wurde dann neuer Lesestoff für euch getippt :)
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Tamara (Mittwoch, 19 Juli 2023 16:06)
Du bist echt ne coole Socke. Schöner Beitrag! Hab selbst ich neue Dinge gelernt �