Lasst uns eintauchen in eine Welt weit entfernt von westlichen Vorstellungen…

Wir verlassen die asphaltierte Straße und radeln weiter über die „Dirt Road“, die mehr und mehr einer BMX-Strecke gleicht. Hinter einem kleinen Laden biegen wir rechts ab und tauchen ein in eine Welt, die für uns Westliche sehr weit weg ist. Wir sind zu Besuch bei einer Life Trust Mitarbeiterin eingeladen, die im Compound namens Katondo wohnt. Die Armenviertel haben alle ihren eigenen Charakter und unterschiedliche Atmosphären. Katondo ist ein schönes und friedlich wirkendes Viertel. Es ist viel los über Tag.

Die Häuser stehen dicht bei- und miteinander. Es gibt keine abgezäunten Grundstücke und wenig Hecken zwischen den einzelnen Zuhause. Die Wege sind überwiegend sauber, wenn auch heute wieder an manchen Ecken der Rauch aufsteigt, wo Sambier ihre Müllhaufen verbrennen. Auch wenn den meisten Haushalten hier sehr wenig zur Verfügung steht, habe ich das Gefühl, dass sie einen gewissen Anspruch an ihre Lebensumstände haben und sich mit ihren Möglichkeiten sehr gut zu helfen wissen.

Zum Beispiel habe ich vor ein paar Wochen eine unserer Schneiderinnen besucht, die wie selbstverständlich auf dem Boden hockend ein Kleid genäht hat. Natürlich braucht man keinen Tisch zum Nähen, wenn man eine Handradmaschine hat... Natürlich braucht man keinen Strom für die Maschine, wenn es eine Handradmaschine ist… ich war sehr beeindruckt von dieser Szene. Noch viel beeindruckter war ich, nachdem ich einmal an ihrer Stelle sitzen und nähen durfte. Was eine Kunst, auf gleicher Höhe mit der Maschine zu sitzen und nur eine Hand frei zu haben, um das Nähgut zu führen, denn die andere muss ja das Rad drehen, damit die Maschine überhaupt zum Laufen kommt.

Wir suchen uns unseren Weg durch die labyrinthartig angeordneten Gassen. Aus allen Ecken kommen Kinder an den Wegrand gelaufen. Irgendwo hört man mehrere Leute „Muzungu“ rufen. („Muzungu“ ist das Wort für Engländer und wird mittlerweile allgemein für Weiße verwendet.) Wir sind eine Attraktion. Das ist etwas, womit ich mich am Anfang sehr schwer getan habe und bis heute ist es auch noch nicht einfacher geworden ist. Dieses Gefühl, dass einem vermittelt wird, wenn man durch die Gassen fährt, ist schwer zu beschreiben. Es ist kein allzu schönes Gefühl, nur allein wegen seiner Hautfarbe so viel mehr Wert zugesprochen zu bekommen. Aber wenn man sich vor Augen führt, dass manche Kinder mit uns tatsächlich das erste Mal einen Weißen sehen, kann man ein bisschen Verständnis dafür aufbringen. Trotzdem ist dieses „Attraktion sein“ etwas, auf das ich gerne verzichten würde.

 

Nach ein paar Mal abbiegen sind wir bei der kleinen Kirche angekommen, die unser heutiger Treffpunkt ist. Es gibt keine Straßennamen, geschweige denn Hausnummern im Compound, deswegen hat die Life Trust Mitarbeiterin, bei der wir heute zu Besuch sind, diesen Ort vorgeschlagen statt uns den Weg zu ihrem Haus zu erklären. Eine Kirche können wir googeln und sie muss nicht ganz aus dem Compound laufen, um uns abzuholen. Da die Sambier nicht auf Pünktlichkeit vertrauen, ist der nächste Schritt, anrufen, wenn man angekommen ist. Das Problem an dieser sambischen Art sich zu treffen, ist, dass die Sambier nicht zur abgemachten Uhrzeit auch dorthin kommen. Stattdessen laufen sie erst los, wenn man angerufen hat, dass man da ist. Je nachdem wie weit entfernt sie noch wohnen, wartet man dann gerne nochmal bis zu 20 Minuten. Hier lerne ich wirklich Geduld und Warten.

Auf unseren letzten Metern bis zum Wohnhaus gehen wir an Kindern vorbei, die selbstgebaute Drachen steigen lassen. Andere düsen mit aus Flaschen gebauten Eisenbahnen an uns vorbei, die sie an einem langen Stock vor sich herrollen. Die Kreativität hier im Compound lässt mich immer wieder mit offenem Mund zurück. Ein laufender Meter läuft vor mir auf den Weg. Das kleine Mädchen bleibt plötzlich stehen, wie als sei ihr etwas eingefallen. Sie hockt sich hin, zieht dabei ihre Hose runter und pinkelt kurz einfach mitten vor uns auf den Weg. Der Pragmatismus hier im Compound lässt mich auch immer wieder mit offenem Mund zurück.

 

Wir biegen links ab auf das Haus zu, in dem wir heute willkommen geheißen werden. Es ist umgeben von anderen kleinen Hütten, die gemeinsam eine Art „Community“ bilden. Die Nachbarschaft scheint unweigerlich sehr eng zu sein, aber trotzdem oder gerade deswegen ein gutes Miteinander zu haben. Wir werden freudestrahlend von einer Horde Kinder begrüßt, die plötzlich um alle möglichen Häuserecken herum auf uns zu kommen. Schwestern, Nachbarn und Freunde heißen uns ebenfalls willkommen und teilen uns mit, wie geehrt sie sich fühlen, dass wir sie besuchen kommen.

Wir nehmen auf einer Bambusmatte Platz und plaudern in einer geselligen Runde über dies und jenes. Nach einiger Zeit trudeln noch zwei weitere Mädels ein. Wir wollen heute versuchen unsere weichen, fizzeligen „Muzungo-Haare“ nach der sambischen Art einzuflechten. Besser gesagt, die vier Mädels wollen das versuchen, wir können ja nicht viel mehr machen als da sitzen und still halten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten klappt es doch besser als gedacht. Das Haar der Sambier ist sehr viel fester und in sich leicht gekräuselt, sodass die Enden von Zöpfen keine Gummis brauchen, weil sie von alleine halten. Es ist faszinierend und ich bin immer wieder begeistert von den vielen Möglichkeiten an Flechtfrisuren, die sie dadurch haben. Manchmal sieht man richtige Kunstwerke auf Köpfen teilweise auch schon bei Kleinkindern, bei denen ich mich dann frage, woher sie die Geduld nehmen und wie sie den Schmerz aushalten. Denn oh ja, eng geflochten sieht schön aus, aber es tut weh… Die Sambier dagegen beneiden uns um unser weiches, fallendes Haar. Es passiert immer mal wieder, dass jemand aus dem Nichts meine Haare anfasst, weil sie sich nicht vorstellen können, wie sich unsere Haare anfühlen. Wir sind halt alle Menschen und möchten lieber das, was wir gerade nicht haben.

 

Es ist eine sehr lustige Runde. Aber tatsächlich ist es gar nicht so einfach das Baby auf meinem Schoß zu betüdeln und gleichzeitig meinen Kopf gegen den Druck vom Flechten zu halten. Weil wir nicht so viele Zopfgummis haben, wickeln wir Garn um die Enden unserer Zöpfe. Kurz vor der Dämmerung ist tatsächlich jede Frisur fertig und wir sind beseelt von einem Nachmittag voller interessanter Gespräche…

 

 

Genau eine Woche später begleiten wir eben diese vier Mädels, die unsere Haare geflochten haben, in ihre Kirche. Zwischendurch dürfen wir die Kinder in ihren Kindergottesdienst begleiten und sind dankbar für den Tapetenwechsel während des 4-stündigen Gottesdienstes.

Wir sitzen mitten zwischen ihnen auf dem Boden auf alten Säcken in einer kleinen, einfachen Hütte. Zwischendurch müssen wir kurz unterbrechen, denn einer Leitung ist -Gott sei dank- die Schlange aufgefallen, die sich in einer Ecke in die Hütte geschlängelt hat. Ich erschrecke etwas bei der Vehemenz, mit der eben dieser Leiter Steine auf die Schlange wird, bis sie tot ist und sie anschließend weit weg bringt. Nach dem Vorfall kann ich mit etwas klareren Gedanken den Grund für sein Handeln verstehen. Schlangen sind eine der größten Gefahren für die Sambier. Wird jemand gebissen, bedeutet das den sicheren Tod. Auch wenn du die finanziellen Mittel für ein Gegengift hättest, holt dich im Compound kein Krankenwagen mit Blaulicht auf dem schnellsten Weg ab.

 

Nach dem Gottesdienst laufen wir gemeinsam nach Hause und versammeln uns wieder auf der Bambusmatte. Wir haben für alle, um uns noch einmal für das Haareflechten zu bedanken, Wassermelone und „Fruticana“ mitgebracht. „Fruticana“ könnte man fast als Nationalgetränk einordnen. Die oft gekühlte, zuckersüße Limonade ohne Kohlensäure findet man hier fast an jeder Ecke. An machen Tagen ist mir dieses Zuckergetränk wirklich zu süß, an anderen Tagen kann ich mich nicht entscheiden, ob ich lieber Zucker mit Mango- oder Kakigeschmack möchte. Ich genieße wieder das gesellige Beisammensein und den Trubel, der unweigerlich herrscht, denn der Großteil des Lebens im Compound findet draußen statt - kochen, waschen, Geschirr spülen, spielen… Heute darf ich selber an die sambischen Haare und mich darin versuchen, kleine Kordeln zu drehen. Es klappt so mäßig…

 

Während der ganzen Zeit, die wir da sind, beobachte ich immer wieder eine Hochschwangere aus den Augenwinkeln, die etwas nach uns aus der Kirche nach Hause gekommen ist. Ohne sich auch nur eine Minute auszuruhen, hat sie direkt angefangen zu kochen. Um das Ausmaß zu verstehen, warum ich so beeindruckt von ihr bin, möchte ich euch die Hintergründe erklären. Schon zwei Wochen zuvor hatte ich mit ihr im Gottesdienst darüber gesprochen, dass sie kurz vor der Geburt steht. Welche hochschwangere Frau in Deutschland würde in diesem Stadium morgens um 9 Uhr zwei Kilometer zur Kirche laufen, dort vier Stunden Gottesdienst auf einer Holzbank ohne Lehne verbringen und wieder zurücklaufen, um sich dann ohne Pause auf einem kleinen Hocker sitzend ans Kochen zu machen? Später werden wir erfahren, dass sie sogar für uns noch mitgekocht hat.

 

Unsere gemeinsame Zeit endet mit eben diesem gemeinsamen Essen, das wir doch nicht mehr ausschlagen können. In der sambischen Kultur hat gemeinsam Essen und für Besuch kochen, egal wie viel man eigentlich für sich selber hat, einen sehr hohen Stellenwert. Deswegen ist es uns auch so wichtig, immer etwas mitzubringen und so einen Ausgleich zu schaffen, ohne sie in ihrer kulturellen Gastfreundschaft zu kränken. Ich probiere das erste Mal Trockenfisch und bin gelinde gesagt, alles andere als begeistert von dem Geschmack. Die restlichen Zubereitungen sind dafür sehr köstlich. Ein weiterer wundervoller Tag in guter Gemeinschaft, für den ich sehr dankbar bin, geht zu Ende.

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Geli (Samstag, 27 Mai 2023)

    Liebe Viki, du berichtest so unglaublich lebendig, dass ich am liebsten sofort zu dir kommen möchte, um all deine Eindrücke selber zu erleben. Danke für jeden sehr unterschiedlichen und bunten Bericht �